V. Zeitgenössische Reaktionen

Die Bedeutung des Films wurde von zeitgenössischen Zuschauern allgemein erkannt. Die damalige Wirkungsrealität des Films kommt in den folgenden Pressestimmen (K 1–6) zum Ausdruck, die Rudolf Kipp zusammengetragen hatte.

K 1:
„Nicht zuletzt ist es diesem Dokument zuzuschreiben, dass sich zum mindesten die christliche Weltöffentlichkeit mit dieser ihr bisher verborgen gebliebenen Not befasste. Diese Vorführung bezeugte die Tatsache, dass der Film nicht allein in den hohen Gebieten der Kunst zu Hause ist, sondern dass er als Dokumentarfilm die Mission erfüllen kann, an unser christliches Gewissen und an das der Welt zu appellieren.“

– Evangelischer Film-Beobachter, undatiert (Februar/März 1949)

K 2:
„Offenbar wahllos wurden aus der Fülle des Flüchtlingsdaseins und seiner Not Bilder von der Grenze, die mit einem Male Tatsache war und die die Menschen eines Volkes auseinanderriss, herausgegriffen. Es folgen Aufnahmen aus Flüchtlingslagern und in Notunterkünften und von einem wandernden Volk auf den Straßen. In welchem Maße aber ein Dokumentarfilm zu erschüttern vermag, erlebten die Anwesenden bei der Wiedergabe der Szenen, in denen über Verbleib oder Rücksendung in die Sowjetzone entschieden wird. Das Leid, das sich in den hart geprägten Gesichtern der Zurückgeschickten widerspiegelt, wird zum Ankläger einer Gesellschaft ohne Liebe und ohne christliches Handeln.“

– W.T., Evangelischer Film-Beobachter, 1. Oktober 1949

K 3:
Asylrecht ist einer von den Filmen, die das alte verstockte Herz im Leibe umdrehen und die eine Art panischer Hilfsbereitschaft im Zuschauer erzeugen. […] Als ich diesen Film gesehen hatte, wurde mir klar, dass ich blind gewesen war. Die Sonne schien, und es kam mir vor, als spucke sie allen Deutschen ins Gesicht, die sich diesseits schon wieder unter tausend Vorwänden an die kluge Erbärmlichkeit des eigensüchtigen Lebens verloren haben. Das Hadern und Zaudern der Politiker, das Feilschen und Mogeln der Besitzenden, das gierige Raffen und neidische Gaffen der Minderbemittelten, das neonazionale Getöse ohne die sittliche Kraft, erst einmal die Nation neu aus dem Nichts zu schaffen – dies alles kam mir so erbärmlich vor, dass ich mich in Grund und Boden schämte.“

– Gerhard Sanden, Die Welt, 9. September 1949

K 4:
„Der Dokumentarfilm Asylrecht zeigt in erschütternden Szenen das Gesicht dieser ‚verlorenen Generation‘. Kein Kino will ihn spielen, kein Publikum ihn sehen.“

– W.W., Evangelischer Film-Beobachter, 16. Januar 1950

K 5:
„Kein Wort der Anklage erklingt in dem Kommentar. Die erläuternden Bemerkungen des Sprechers haben die kalte Sachlichkeit eines Wetterberichts. Hier wird das unerbittliche Auge der Kamera zum Vermittler der Idee; aber auch das Bild vermeidet den Schrei. Nie spürt man den weisenden Finger: was ihr hier seht, ist menschenunwürdig. In monotoner Wiederholung lautet die Feststellung: so ist es. […] Solche (fast grausame) Unbefangenheit kann man nicht markieren. Der Film bringt eine graphische Tatsachenreportage des Elends, ohne Schminke, ohne Kunst. Doch in der nackten Brutalität der Darstellung jener Tatsachen liegt eine Kunst ohnegleichen. Und diese Kunst erschüttert durch ihre Brutalität und führt zum Aufbegehren gegen die übermäßige Sachlichkeit des Films. Über menschliche Erniedrigung darf man nicht sachlich denken – sagt man sich (und somit wird der größte Fehler dieses Dokuments zu seiner größten Stärke).“

– Holger Hagen, Die Neue Zeitung, 16. Februar 1950

K 6:
„Ein Kunstwerk scheint im Begriff zu sein, das zu erreichen, was Leitartikel, Reportagen, offiziöse Berichte nicht fertig brachten: das Weltgewissen zu erwecken“.

– Die neue Zeitung, 16. Februar 1950

K 7:
„Wer die Frauen und Männer vor den Abfertigungstischen der Flüchtlingslager der ersten Nachkriegszeit in R. W. Kipps Film Asylrecht sah, wird ihre Gesten und Gesichter nie vergessen. Sie waren auf furchtbare Weise betroffen: von Leid, Angst und bangender Hoffnung.“

– Fritz Kempe, Film, 1958

Aufgaben

  1. Aus den Zitaten geht übereinstimmend hervor, dass der Film bei den Rezensenten starke Gefühle auslöste. Arbeiten Sie heraus, worin die Verfasser die entscheidenden Aussagen des Films sahen und welche Wirkung sie sich von ihm erhofften.
  2. In K 4 wird das geringe öffentliche Interesse am Film festgestellt. Worin könnten die Gründe hierfür liegen? Inwiefern geben die anderen Kritiken Hinweise auf diese Gründe? Sehen Sie einen Widerspruch darin, dass der Film einerseits starke Wirkungen auslöst, andererseits aber nur ein kleines Publikum findet?
  3. In K 2 und K 5 werden Aspekte des Films auch kritisch beleuchtet. Erläutern Sie, worin die Negativ-Kritik besteht. Können Sie die Beanstandungen nachvollziehen?
Sek II
  1. In K 1, K 5 und K 6 fällt der Begriff „Kunst“ im Zusammenhang mit dem Film. Inwieweit wurde Asylrecht als Filmkunst aufgefasst? Nehmen Sie selbst Stellung dazu, ob der Film Ihrer Meinung nach als Kunst, als Dokument oder als eine Mischform verstanden werden sollte.