„Ihr redet nur – und keiner tut etwas dagegen.“ – Die erste Zeit in Berlin und beim Reichsarbeitsdienst

1938 beginnt Cato die ersehnte Keramikerlehre bei ihrem Vater in Berlin und wird immer mehr mit den verschiedenen Facetten des NS-Schreckensregimes konfrontiert. Im Haus am Kaiserdamm, wo sie bei ihrem Vater und dessen Frau Rahel-Maria, mit der sie sich gut versteht, lebt, wird eine jüdische Familie verhaftet und deportiert, Cato empfindet dieses Unrecht in besonderem Maße. Auch sonst verfolgt sie die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse sorgenvoll und fordert Taten anstelle von Worten: „Ihr redet nur – und keiner tut etwas dagegen.“ Nachdem am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begonnen hat, wird Cato Ende April 1940 zum Reichsarbeitsdienst (RAD) eingezogen und lebt nun in Ostpreußen im Lager Blaustein. Bei ihrem Dienst in der Küche und bei der Feldarbeit begegnet sie erstmals sogenannten „Fremdarbeitern“ und kann schließlich sogar als Dolmetscherin bei der Verständigung zwischen Bauern und französischen Zwangsarbeitern fungieren. Wegen einer Entzündung am Bein beendet Cato den Arbeitsdienst vorzeitig und kehrt nach einem kurzen Erholungsaufenthalt in Fischerhude im September 1940 nach Berlin zurück, um in der Werkstatt ihres Vaters zu arbeiten. Sie fremdelt zunächst mit der großen Stadt, die ihr wie ein „Steinmeer“ erscheint. Zusammen mit Cato lebt auch ihre Schwester Mietje beim Vater, dessen Keramikwerkstatt auf dem Gelände der Firma Schering liegt, bei der ebenfalls französische Kriegsgefangene gezwungen sind zu arbeiten.

Filmausschnitt 1: Cato 00:27:58–00:29:05

Abb. 1: Cato in der Berliner Keramikwerkstatt (1941, © Archiv S. Bontjes van Beek)

Catos Blick auf den Krieg

M1

Brief vom 4. März 1940 an ihre Tante Louise Modersohn, Lolo genannt

„Jetzt bin ich schon 14 Tage in der Küche. Denke Dir; ich, die noch nie an einem Herd gestanden hat, habe schon am zweiten Tag für 48 Personen gekocht, und alle riefen im Chor: »Ein Lob der Küche«. Ich mußte aber selbst darüber lachen, es kam mir zu komisch vor (...)

Seit Wochen wütet jetzt schon der Krieg. Nie wollten die Menschen sich wieder bekämpfen, so schwor man 1918. Alle Feinde lagen sich in den Armen, und unter Tränen gelobten sie es sich. 1933 wußte man, daß ein neuer Krieg kommen würde. Er ist nun da. Wie lange er dauern wird, weiß niemand. Alle guten Kräfte und Instinkte werden wieder verloren gehen. Alle bösen Kräfte und Instinkte werden wieder aufkommen. (…)

Weißt Du, liebe Lolo, seit ein paar Tagen bin ich wahnsinnig unruhig. Ich spüre es genau, irgendetwas ganz Furchtbares wird in der nächsten Zeit geschehen. Etwas, das uns alle betreffen wird ... An manchen Tagen spüre ich es ganz besonders stark, daß alles seinem Ende entgegengeht. Alles wird sich verändern. Und nichts wird so bleiben und werden, wie wir es uns denken. Die Welt ist zu schrecklich. Ich bin so wahnsinnig müde und muß ins Bett. Bitte, verzeih die Schrift, ich bin müde.“

M2

Brief vom 13.07.1940 an Ulrich Modersohn, den Sohn Lolos

„Was Du mir über Kameradschaft und Freundschaft schreibst, ist sehr schön (...) Im gegebenen Moment stehen alle für einen und einer für alle (....) Manchmal möchte ich an allem verzweifeln und wünsche, ich hätte vor vielen Jahrtausenden gelebt (...) Du kannst mich sicher verstehen, wenn ich manchmal verzweifeln möchte. Vieles stürzt in mir zusammen und verursacht Schmerzen.

„Kennst Du den chinesischen Spruch:

„Ins Unermeßliche steigen die glücklichen Wolken.“ Kaum ahnt der Mensch, was grenzenlos heißt – Gut und Böse wird vergolten – früh sei es oder spät. Das Gesetz der Wiederkehr zwingt uns in seine Bahn. Wozu eifern der Welt Kinder um Gut und Macht? Alles ist vorher bestimmt – machtlos ist der Mensch immer und überall – Nur am Ende durchschaut er den großen Wahn! – (…) Hatte ein schlimmes Bein und habe dabei viel gelesen. „Krieg und Frieden“ von Tolstoi. Er beschreibt den russisch-französischen Krieg von 1802. Es ist so furchtbar grausam alles. Die Welt hat sich nicht viel geändert seither, leider. Kulturen werden gebaut, zerstört, wieder neu gebaut und von neuen Geschlechtern (sie werden von Geschlecht zu Geschlecht immer härter) wieder weggefegt. Weißt Du, lieber Ulrich, ich suche und suche immer noch nach der Wahrheit.“

Abb. 2: Cato (Mitte) mit zwei Kameradinnen der Frauensegelfluggruppe, Berlin 1937-1938 (© Archiv S. Bontjes van Beek

Der Kontakt mit den Zwangsarbeiterinnen bei Schering

M3

Brief vom 21. Juli 1942 an ihre Schwester Mietje

„Auf einem Fabrikgrundstück von Schering sind viele Ukrainerinnen. Ich war oft mit ihnen zusammen und die Verständigung polnisch, deutsch, ukrainisch ging gut. Eine ältere Frau mit einem großen Tuch um Kopf und Schultern geht oft allein herum, während die anderen arbeiten. Sie hat Augen wie ein krankes Tier und überhaupt sieht sie wie ein krankes Tier aus. Vor ein paar Tagen traf ich sie und wünschte ihr: „dobre jen“. Sie kam auf mich zu, umarmte und küßte mich auf Stirn, Backen und Hals und zog weinend ein Couvert aus ihrem Busen und zeigte mir die Photographie ihres malenko schurek, ihres kleinen Kindes und ihrer matka. Ein paar Worte sprach sie Deutsch und das war ein klagendes: „Nach Haus, nach Haus.“ Es war alles so erschütternd, daß ich auch weinen mußte mit ihr um sie, ihren Jungen und um alle bedrängten Menschen. Unter diesen Russinnen sieht man Frauen und Mädchen von einer selten herben Schönheit. Pascha ist meine besondere Freundin, ein Mädchen von 14 oder 15 Jahren. Sie hat ein solch bezauberndes natürliches Wesen. Die Art wie sie spricht, geht und lacht. So muß vielleicht die Braut von Novalis1, seine Sophie, der er die meisten Hymnen an die Nacht nach ihrem frühen Tod gewidmet hat, ausgesehen haben.“

I. Aufgaben

  1. Arbeiten Sie Catos Blick auf den Krieg anhand der Materialien M1 und M2 heraus.
  2. Erläutern Sie Catos Menschenbild, wie es sich im Brief an Mietje im Juli 1942 zeigt (M3)

„Brûlez ces lettres – Verbrennt diese Briefe“: Hilfe für französische Zwangsarbeiter

Die Keramikwerkstatt von Jan Bontjes van Beek befindet sich in der Berliner Jungfernheide im nördlichen Charlottenburg. Jan hat zu dieser Zeit für seine neue Familie eine geräumige Wohnung angemietet, die nur drei S-Bahn-Stationen entfernt liegt. Hier teilen sich Cato und Mietje zusammen ein Zimmer. Während Cato ihre Ausbildung als Keramikerin weiterführen soll, besucht Mietje zu dieser Zeit die in der Nähe des heutigen Berliner Ostbahnhofs gelegene Meisterschule für Graphik und Buchdruck.

Während die beiden Schwestern im Winter des Jahres 1940/ 41 als Pendlerinnen unterwegs sind, stellen sie bald fest, dass der letzte Waggon der S-Bahn meistens leer ist – auf einem Schild ist zu lesen, dass dieser „Für Reisende mit Traglasten“ reserviert sei. Zu bestimmten Zeiten aber kann man durch ein kleines Fenster in der Tür sehen, dass französische Kriegsgefangene, die man zur Zwangsarbeit in den Grunewald bringt, in diesem Wagen sitzen. Cato und Mietje werden neugierig und versuchen es einzurichten, einen Platz in der Nähe der Franzosen zu finden. Auch wenn Cato von ihrer Tante Amelie Breling ein wenig Französisch gelernt hat, ist es nicht möglich, sich mit den Gefangenen zu unterhalten, da sie von bewaffneten Soldaten bewacht werden. Cato und Mietje versuchen also anfangs Blickkontakt zu den Kriegsgefangenen aufzubauen und schenken ihnen sooft es geht ein Lächeln. Die einzige Gelegenheit, unmittelbar mit den Männern in Kontakt zu treten, besteht am S-Bahnhof Westkreuz: Hier werden die Franzosen aus dem Bahnhof ins Freie geführt. Cato und Mietje – und manchmal auch zwei Freundinnen von Mietje – nutzen diese Gelegenheit, um den Zwangsarbeitern im Vorbeigehen einen Apfel, Zigaretten, Handschuhe oder auch kleine Briefe in die Manteltasche zu stecken. Bei einer Gelegenheit revanchiert sich ein französischer Kriegsgefangener, indem er es fertigbringt, Mietje einen kleinen Blumenstrauß zuzustecken.

Abb. 3: Aquarell von Mietje Bontjes van Beek: Westkreuz 1941 (entnommen: Mietje Bontjes van Beek: Verbrennt diese Briefe. Kindheit und Jugend in der Hitlerzeit, 1922–1945. Fischerhude 1998, S. 78)

Bei ihrer Hilfe für die Franzosen besteht stets die Gefahr, dabei entdeckt zu werden. Die jungen Frauen werden einmal sogar von einem SS-Mann davor gewarnt, dass sie der Gestapo gemeldet werden könnten. Bemerkenswert ist schließlich, dass sich auch die französischen Kriegsgefangenen Sorgen um die Sicherheit der jungen Frauen machen. In einem der Briefe, die Mietje bekommt, findet sich die Aufforderung „Brûlez ces lettres – Verbrennt diese Briefe“.

Nach diesen „Spuren des Widerstands“ (Vinke) erfolgt der Schritt in die aktive politische Arbeit dann durch die Begegnung mit Libertas Schulze-Boysen, einer Bekannten des Vaters. Diese ist die Frau Harro Schulze-Boysens (vgl. die Kapitel mit biografischen Informationen zu den Mitgliedern der sog. „Roten Kapelle“ sowie zu deren Aktivitäten) und stammt mütterlicherseits aus einer alten preußischen Adelsfamilie. Ihr Großvater ist der Diplomat Fürst Philipp zu Eulenburg, der mit Kaiser Wilhelm II. eng befreundet war. Ihre Großmutter ist eine schwedische Gräfin. Cato lernt Libertas kennen, als diese Jans Töpferwerkstatt besucht, um einen Artikel zu schreiben. Die beiden jungen Frauen – Libertas ist nur sieben Jahre älter als Cato – verstehen sich auf Anhieb – trotz der unterschiedlichen Milieus, aus denen sie stammen. Beide haben eine Zeit lang im Ausland gelebt und interessieren sich für Hollywoodfilme. Vor allem aber teilen sie eine innige Liebe zum Fliegen.

Libertas arbeitet zu dieser Zeit als Mitarbeiterin bei der Deutschen Kulturfilmzentrale, wo sie Zugriff auf private Fotoaufnahmen hat, die zu einem großen Teil von der Ostfront stammen und die NS-Kriegsverbrechen dokumentieren. Libertas Schulze-Boysen beginnt damit, diese Fotografien heimlich zu sammeln. Sie sollen eines Tages dazu dienen, die Kriegsverbrechen vor Gericht zu bringen. Libertas zeigt Cato diese Fotoaufnahmen. Obwohl Cato das Ausmaß der Gräueltaten zunächst kaum fassen kann, führen die Bilder doch letzten Endes dazu, dass sie sich aktiv für den Widerstand in der Gruppe um Libertas und Harro Schulze-Boysen engagieren wird.

Gemeinsam mit ihrem Freund Heinz Strelow ist Cato an der Ausarbeitung und Vervielfältigung des Flugblattes „Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk“ beteiligt. Zudem wirken die beiden im Mai 1942 bei einer Klebezettelaktion der Roten Kapelle mit, die gegen die NS-Propaganda-Ausstellung „Das Sowjet-Paradies“ gerichtet ist.

Filmausschnitt 2: Cato 00:34:44–00:37:18

M3

Erinnerungen von Catos Schwester Mietje

„Beim Einsteigen konnte man es immer einrichten, sich unbeobachtet unter die Gefangenen zu mischen. Dies musste stets schnell geschehen und dauerte nur ein paar Sekunden. Der Zug hielt an, man ließ einige Leute aussteigen, wartete kurz und sprang aus dem Abteil auf den Bahnsteig, wo die Gefangenen bereits vorüberzogen. Mit gespielter Eile drängelte man sich durch einen Trupp, übergab einen Zettel oder nahm blitzschnell einen Brief entgegen und hastete dem Ausgang zu.“

(aus: Mietje Bontjes van Beek: Verbrennt diese Briefe. Kindheit und Jugend in der Hitlerzeit, 1922–1945. Fischerhude 1998, S. 79 f.)

II. Aufgaben

  1. Informieren Sie sich über die Lebensumstände von Zwangsarbeitern, die in der NS-Zeit in Rüstungsbetrieben arbeiten mussten.
  2. Im Rückblick meinte Mietje Bontjes van Beek einmal über ihre Hilfe für die Zwangsarbeiter: „Im Grunde war dieser Kontakt wie Luft zum Atmen und auch ein Abenteuer. Es war nicht politisch, aber gleichzeitig doch hochbrisant politisch.“ Erläutern Sie diese Einschätzung vor dem Hintergrund der Situation der Zwangsarbeiter. [vgl. M3]
  3. Hermann Vinke schreibt in seiner Cato-Biographie, dass es sich bei der Hilfe für die französischen Kriegsgefangenen um „Spuren des Widerstandes“ handelt. Setzen Sie sich mit dieser Einordnung auseinander. Berücksichtigen Sie dabei auch Ihnen bekannte Definitionen von politischem Widerstand.