Die renommierte, überregional erscheinende „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) druckte am 27. April 1951 die folgenden Zeilen ab. Zu diesem Zeitpunkt lief das Verfahren der Lüneburger Staatsanwaltschaft gegen Manfred Roeder noch:
Der frühere Generalrichter der deutschen Luftwaffe, Dr. Manfred Roeder, hat auf einer Versammlung der Sozialistischen Reichspartei in Lüneburg erklärt, die Mitglieder der „Roten Kapelle“ seien keine idealistischen Widerstandskämpfer, sondern gemeine Landesverräter und Spione gewesen. Dr. Roeder, der seine Ausführungen auf das gesamte Material aus dem Prozess gegen die „Rote Kapelle“, an dem er als Anklagevertreter teilgenommen hatte, stützte, bezeichnete das damalige Gerichtsverfahren als durchaus korrekt im Sinne der üblichen Strafbestimmungen für Hoch- und Landesverrat.
Nach Angaben Dr. Roeders sei die „Rote Kapelle“ eine ganz Westeuropa umspannende Spionageorganisation der Sowjetunion, die auch heute noch tätig sei und auf deren Konto seiner Ansicht nach die Atomspionagefälle in den Vereinigten Staaten, Kanada und Großbritannien gingen. Während des Dritten Reiches habe sie mit einem Netz von 40 Kurzwellensendern vor allem in Deutschland gearbeitet. Sie sei von einer Zentrale in Brüssel geleitet worden, und ihre Mitglieder seien schuldig an dem Tod von Tausenden deutscher Soldaten und Zivilisten. Sie hätten nicht nur Luftangriffe auf deutsche Städte veranlasst, sondern auch den U-Boot-Einsatz im Eismeer zunichtegemacht und entscheidend dazu beigetragen, dass in der Schlacht bei Woronesch unzählige deutsche Soldaten verblutet seien. […] Dr. Roeder erklärte abschließend, die lebenden Angehörigen der „Roten Kapelle“ beschmutzten dadurch, dass sie sich als Widerstandskämpfer hätten anerkennen lassen, die Ehre des wahren Widerstands. Charakteristisch sei, dass Landesverräter es verstanden hätten, sich in führende Positionen zu manövrieren.
(aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. April 1951, S. 3)
Der Historiker Gerhard Ritter (1888–1967) lehrte von 1925 bis 1956 an der Universität Freiburg. Er war u. a. mit dem ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister und Vertreter des bürgerlichen Widerstands Carl Friedrich Goerdeler befreundet, der von den Männern des 20. Juli als Reichskanzler nach einem erfolgreichen Staatsstreich vorgesehen war und ebenfalls von den Nationalsozialisten in Plötzensee hingerichtet wurde. Diesem widmete er 1954 eine viel beachtete Biographie, welche gleichzeitig die erste Gesamtdarstellung des deutschen Widerstands gegen Hitler war. Hier schreibt er über die „Rote Kapelle“:
Die Verschworenen der „Roten Kapelle“ sind nach 1945 in der russisch besetzten Zone Deutschlands als Helden des Widerstands gefeiert worden – mit gutem Grund. Aber mit „deutschem Widerstand“ hatte diese Gruppe offenbar nichts zu tun; man sollte darüber keinen Zweifel lassen. Sie stand ganz eindeutig im Dienst des feindlichen Auslandes. Sie bemühte sich nicht nur, deutsche Soldaten zum Überlaufen zu bewegen, sondern verriet wichtige militärische Geheimnisse zum Verderben deutscher Truppen. Wer dazu als Deutscher imstande ist, mitten im Kampf auf Leben und Tod, hat sich von der Sache des Vaterlandes losgelöst, er ist Landesverräter – nicht nur nach dem Buchstaben des Gesetzes. Nun soll nicht geleugnet werden […], dass es sittliche Verpflichtungen gibt, die unter Umständen sogar die Bande nationaler Gemeinschaft sprengen. Formaler Landesverrat kann sogar zur sittlichen Verpflichtung werden – eine paradoxe, aber unausweichliche Konsequenz der Verkehrung aller natürlichen Rechtsverhältnisse im Totalstaat. Aber das gilt nur dann, wenn ernstliche Aussicht besteht, durch einen solchen Vorstoß gegen das formelle Recht das eigene Land zu retten. […] Die „Rote Kapelle“ wollte Russlands Sieg, um mit russischer Hilfe in Deutschland einen kommunistischen Staat nach sowjetrussischem Muster zu errichten – einen Staat, den die überwältigende Mehrheit der Deutschen sich nur mit Gewalt hätte aufzwingen lassen […].
(aus: Gerhard Ritter: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung. Stuttgart 1954, S. 103.)
Der konservative Historiker Hans Rothfels (1891–1976) war seit 1926 Professor in Königsberg, bevor er wegen seiner jüdischen Abstammung von den Nationalsozialisten 1934 aus dem Amt gedrängt wurde. 1939 emigrierte er über England in die USA. Ab 1951 lehrte er an der Universität Tübingen und war u. a. Mitherausgeber der renommierten „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“. Zu seinen akademischen Schülern gehören u. a. Wolfgang Mommsen und Heinrich August Winkler.
In seinem Werk „Die deutsche Opposition gegen Hitler“ (1958) schreibt er:
Man wird ohne weiteres vermuten, dass die unter dem Namen „Rote Kapelle“ bekannt gewordene Widerstandsgruppe (…) eine andere, sozusagen „realistischere“ Farbe trug. In der Tat steht außer Frage, dass ein Teil der Mitglieder mindestens in laufender Fühlung mit den Sowjets war und sie im Krieg, bis die Aufdeckung ihres Geheimdienstes im August 1942 erfolgte, über einen Sender mit militärischen Informationen versorgt hat. Das soll in keiner Weise verwischt werden. Aber ebenso wenig ist eine summarische Abschüttelung der Männer und Frauen dieses Kreises als bloße Kreml-Agenten und daher nicht zum Bereich der echten Opposition gehörig am Platze.
Auf das Problem des Landesverrats wird noch zurückzukommen sein. Hier mag nur einstweilen gesagt sein, dass man nicht wohl ex post eine eindeutige Linie ziehen kann zwischen dem, was der „Rettung“ des Landes dient, und dem, was seiner „Preisgabe“ dient. Auch geht es nicht an, die Perspektive und die Erfahrung des Satelliten-Daseins in die damalige Situation hineinzudenken. Männer wie Schulze- Boysen und Arvid Harnack waren nicht „linientreu“. Sie blieben von der Episode des Hitler-Stalin-Paktes unberührt, eben weil in einem idealistischen und eigenständigen Kommunismus gegründet. Auch bei ihnen handelt es sich, wie Ad[olf] Grimme einen Gedenkartikel für ein anderes Mitglied des Kreises, den Dichter Adam Kuckhoff, überschrieb, um „Widerstand vom Geist her“. Mochten ihre Ziele und Mittel von denen der übrigen Gruppen abweichen, Gesinnung und Haltung taten es nicht.
(aus: Hans Rothfels: Die deutsche Opposition gegen Hitler. Eine Würdigung. Frankfurt a. M. 1958, S. 17f.)
Abb. 1: DDR-Sonderbriefmarke aus dem Jahr 1983 zum „Ehrenden Gedenken der Schulze-Boysen/ Harnack-Widerstandsorganisation“
Im Oktober 1948 wandte sich Catos Mutter Olga Bontjes van Beek an den „Kreissonderhilfsausschuss für Verfolgte der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ in Verden/ Aller, um ihre Anerkennung als Hinterbliebene eines NS-Opfers zu erreichen. Zunächst gewährte ihr der Ausschuss eine monatliche Hinterbliebenenrente von 60 DM.
Gegen Ende 1949 unternahm sie den Versuch, das gegen Cato verhängte Todesurteil nachträglich aufheben zu lassen, um so wenigstens eine finanzielle Entschädigung für Catos Haft und Hinrichtung zu erhalten. Nachdem der Landkreis Verden im Sommer 1950 die Bearbeitung sämtlicher Anträge auf Wiedergutmachung gestoppt hatte, sollte es bis zum April 1952 dauern, ehe man Olga eine Haftentschädigung in Höhe von 1650 DM zusprach. Hiergegen legte allerdings der zuständige „Beauftragte des öffentlichen Interesses“ Beschwerde ein. Als Begründung gab er an, dass es keine Beweise für eine „Überzeugungstäterschaft“ Catos gäbe. In der Folge verwendeten sich zahlreiche Angehörige und Freunde zugunsten Catos, darunter auch der damalige Bremer Innensenator Adolf Ehlers sowie der Schriftsteller Günther Weisenborn, der selbst aktiv Widerstand gegen die NS-Herrschaft geleistet hatte.
Im November 1956 erhielt Olga einen ablehnenden Bescheid der zuständigen Behörde: Cato sei demnach in erster Linie wegen Spionage verurteilt worden. In der Begründung ihrer Entscheidung griff die Behörde maßgeblich auf eine Zeugenaussage Manfred Roeders zurück, der im Prozess gegen Cato als Vertreter der Anklage fungiert hatte. Gegen diesen Bescheid legte Olgas Rechtsanwalt Dieter Ahlers bei der Entschädigungskammer des Regierungspräsidenten Klage ein.
Am 27. Februar 1958 – also zehn Jahre nach Antragsstellung – sprach das Landgericht Stade Olga schließlich eine finanzielle Entschädigung zu.
Catos Todesurteil vom 18. Januar 1943 ist formell erst im April 1999 aufgehoben worden. Grundlage hierfür ist das seit dem 1. September 1998 geltende „Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile“.
Anspruch auf Entschädigung, § 1:
(1) Anspruch auf Entschädigung nach diesem Gesetz hat, wer in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 (Verfolgungszeit) wegen seiner gegen den Nationalsozialismus gerichteten politischen Überzeugung, aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung (Verfolgungsgründe) durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen oder in seinem beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat (Verfolgter).
(2) Der Verfolgung wegen politischer Überzeugung wird gleichgestellt eine Verfolgung, die darauf beruhte, dass der Verfolgte auf Grund eigener Gewissensentscheidung sich unter Gefährdung seiner Person aktiv gegen die Missachtung der Menschenwürde oder gegen die sittlich, auch durch den Krieg nicht gerechtfertigte Vernichtung von Menschenleben eingesetzt hat.
(aus: Johannes Hohlfeld (Hg.): Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte, Band 8: Das Ringen um Deutschlands Wiederaufstieg, Teil 2: 1953 – 1954. Berlin o. J., S. 254f.)
Aus einem Schreiben von Olga Bontjes van Beeks Rechtsanwalt Dieter Ahlers vom 29. September 1954:
„In seiner Beschwerde vom 18. März 1952 hat der Vertreter des öffentlichen Interesses ausgeführt, dass die Akte keinerlei Beweis für eine Überzeugungstäterschaft für Fräulein Kato Bontjes van Beek ergebe. Hierzu bedarf es nach diesseitiger Auffassung keines Beweises mehr; denn aus welch anderen Gründen sollten die nationalsozialistischen Gewalthaber ein 22 Jahre altes Mädchen wegen Beihilfe zum Hochverrat zum Tode verurteilt und hingerichtet haben, wenn hier nicht eine eindeutige gegen das nationalsozialistische Regime gerichtete Überzeugungstat vorgelegen hätte. […] Die Erfordernisse des Beweises einer Überzeugungstat werden ja doch überspannt und es entstehen unerträgliche Beweisschwierigkeiten, wenn man auch in den Fällen, wo eindeutig feststeht, dass der Verfolgte wegen seiner Beteiligung an einem hochverräterischen Unternehmen wegen Beihilfe zum Hochverrat zum Tode verurteilt wurde, noch weitere Beweise als die Verurteilung selbst verlangen würde.
(aus: Staatsarchiv Stade, Rep. 210, Nr. 1489; Hinweis: die veränderte Schreibweise „Kato“ wurde aus dem Original entnommen)
(aus: Staatsarchiv Stade, Rep. 210, Nr. 1489)
(aus: Staatsarchiv Stade, Rep. 210, Nr. 1489)
Aus dem Bescheid der Entschädigungsbehörde des Regierungspräsidenten in Stade vom 20. November 1956 zur Ablehnung des Antrags Olgas auf Haftentschädigung: „Die von Amts wegen durchgeführten Ermittlungen führten zu nachstehendem Ergebnis […]:
Cato Bontjes van Beek hatte über Angehörige einer Berliner Abendschule in der Kleiststraße Kontakt mit der Gruppe Schulze-Boysen gefunden. Es fanden zunächst Diskussionsabende zur Festigung der kommunistischen Weltanschauung statt. Die Führer dieser Gruppe standen zu dieser Zeit bereits im Dienst der sowjetrussischen militärischen Spionage. Van Beek wurde über die Verbindungen zu den russischen Agenten, die teils als Fallschirmspringer, teils durch die Frontlinie in deutschen Uniformen durchgesickert waren, unterrichtet. Van Beek übernahm etwa seit 1942 die Treffs zur Übermittlung der Verratsmeldungen. Sie wusste, dass es sich um Produktionszahlen der deutschen Rüstung handelte, die Personen übermittelt hatten, die für Schulze Boysen tätig waren. Van Beek war als Agentin bei den Auftragebern in Moskau gemeldet. Eine im Berliner Lustgarten 1942 veranstaltete Ausstellung „Das Sowjetparadies“ gab Schulze-Boysen Veranlassung, nachts in den Straßen der Berliner Westens eine Klebeaktion zu veranstalten, die gegen den Nationalsozialismus gerichtet war. An dieser Aktion hat van Beek aktiv teilgenommen. Das Reichskriegsgericht hat jedoch politische Motive nicht geprüft. Das ergibt sich auch schon daraus, dass ein Teil der Angehörigen der Widerstandsgruppe, der sich lediglich nur im kommunistischen Sinne betätigt hatte, kurz vor Weihnachten 1942 auf freien Fuß gesetzt wurde, soweit ihnen keine Spionagetätigkeit nachgewiesen werden konnte. In der Hauptverhandlung […], die gegen van Beek allein durchgeführt wurde, ist nur über Spionage – und zwar Verrat militärischer Geheimnisse – verhandelt worden. […] Die Verurteilung erfolgte ausschließlich wegen Landes- und Hochverrat nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung. Das Urteil musste nach den damals geltenden Bestimmungen auf Todesstrafe lauten. Eine Verurteilung wegen Spionage ist keine typisch nationalsozialistische Unrechtshandlung. Spionage ist in allen Staaten strafbar. Auf derartige gesetzliche Bestimmungen ist jedes Land zur Erhaltung seiner Wehrkraft und zum Schutze vor Angriffen angewiesen […]. Während der Zeit der NS-Gewaltherrschaft wurde Spionage in jedem Falle verfolgt und geahndet, gleichgültig, ob der Täter aus dem Kreise der politischen Gegner angehörte oder nicht. […] Der Antrag war daher abzulehnen.
(aus: Staatsarchiv Stade, Rep. 210, Nr. 1489)