Hintergründe zur Formierung der „Roten Kapelle“

Es handelte sich bei der sog. Roten Kapelle um ein Widerstandsnetzwerk von über 150 Menschen, bei dem ein bemerkenswert hoher Frauenanteil festzustellen ist. Die Mitglieder wiesen jeweils einen ganz unterschiedlichen politischen, gesellschaftlichen und weltanschaulichen Hintergrund auf: So wirkten bildende Künstler wie Kurt Schumacher, Literaten wie Günther Weisenborn oder auch die Tänzerin Oda Schottmüller mit. Führende Persönlichkeiten waren der Wirtschaftswissenschaftler und Jurist Arvid Harnack und der Oberleutnant der Luftwaffe Harro Schulze- Boysen.

Der Begriff Rote Kapelle wurde im Rahmen der Aufdeckung des Widerstandskreises durch die Funküberwachung der militärischen Abwehr sowie durch die Gestapo etabliert: „Rot“ sollte dabei für die (vermeintlich) kommunistische Gesinnung der Gruppe stehen; „Kapelle“ bezeichnete im Fahndungsjargon eine Gruppe von Funkern.

Bereits seit 1933 bestanden informelle Gruppen in Form von Freundes- und Gesprächskreisen, die einen Meinungsaustausch zu künstlerischen, politischen und weltanschaulichen Fragen betrieben. Aufgrund persönlicher Kontakte verschmolzen seit Anfang der 1940er-Jahre diese Kreise, die sich teilweise schon zuvor personell überschnitten und gegenseitig beeinflusst hatten. Arvid Harnack, der als Mitarbeiter im Reichswirtschaftsministerium arbeitete, und Harro Schulze-Boysen, der seit 1934 als Oberleutnant im Reichsluftfahrtministerium diente, standen seit 1940 in Verbindung miteinander. Seit Herbst 1940 hatte Arvid Harnack Kontakt zu einem Mitarbeiter des sowjetischen Nachrichtendienstes in Berlin. An diesen geheimen Treffen nahm ab 1941 auch Schulze-Boysen teil. Die beiden Männer verfolgten mit der Kontaktaufnahme zur Sowjetunion die Absicht, eine Vertrauensbasis zu schaffen, die zur Beendigung des Krieges und zu einer außenpolitischen Verständigung mit den Sowjets führen sollte. Während die Kommunikation mit Moskau nur in Ansätzen etabliert werden konnte, bestand der Schwerpunkt der Widerstandstätigkeit der Roten Kapelle insbesondere in der Dokumentation der nationalsozialistischen Gräueltaten, der Ausarbeitung und Verbreitung von Flugschriften sowie in der konkreten Hilfe für politisch Verfolgte. Nachdem von der deutschen militärischen Abwehr ein Funkspruch abgefangen worden war, erfolgte von Dezember 1941 bis zum Sommer 1942 die Aufdeckung der Gruppe.

Zwischen Herbst 1942 und Frühjahr 1943 wurden etwa 130 Männer und Frauen verhaftet und u. a. wegen „Spionage“, „Vorbereitung zum Hochverrat“ oder „Feindbegünstigung“ durch das Reichskriegsgericht und den Volksgerichtshof verurteilt. Etwa 50 Frauen und Männer wurden in Folge dessen hingerichtet, einige wurden ganz ohne Verfahren ermordet.

Harro Schulze-Boysen (2. September 1909–22. Dezember 1942)

Abb. 1: Harro Schulze-Boysen,
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Harro Schulze-Boysen wird am 2. September 1909 in Kiel als Sohn des hochrangigen Marineoffiziers Erich Schulze und dessen Ehefrau Luise (geb. Boysen) geboren. Der bekannte Großadmiral Alfred von Tirpitz ist sein Großonkel. Im Jahre 1928 tritt er dem nationalistisch gesinnten „Jungdeutschen Orden“ bei und beginnt etwa zeitgleich ein Jurastudium, das er jedoch nicht abschließt. Zu Beginn der 1930er-Jahre bewegt sich Schulze- Boysen weiter in nationalistischen bzw. nationalrevolutionären Kreisen: So unterstützt er die Etablierung der sog. „Volksnationalen Reichsvereinigung“, die auf einen Zusammenschluss unorganisierter Agrarier mit dem nationalistischen Bürgertum aus ist. Daneben initiiert und organisiert er einen Diskussionskreis, zu dem auch Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) eingeladen werden. Seit 1932/33 hat er vielfältige Kontakte in politisch unterschiedliche Lager: So fungiert er u. a. auch als Herausgeber der linksliberalen Zeitschrift „Der Gegner“, welche kurz darauf verboten wird und ihm eine Verhaftung durch die SA einbringt.

Seit April 1934 ist Schulze-Boysen im Reichsluftfahrtministerium tätig. In dieser Zeit wendet er sich verstärkt kommunistischen Ideen zu und sammelt einen Kreis Gleichgesinnter um sich. 1936 heiratet Harro Schulze-Boysen Libertas Haas-Heye, welche zu dieser Zeit als Pressereferentin der amerikanischen Filmgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) arbeitet. Nach Ausbruch des 2. Weltkrieges tritt Schulze-Boysen in Kontakt zu Arvid Harnack. Die beiden Männer entschließen sich dazu, über einen in Berlin tätigen Mitarbeiter des sowjetischen Nachrichtendienstes Kontakt zur Sowjetunion aufzunehmen, um zu einer Verständigung mit Josef Stalin zu gelangen. Nach der Enttarnung der Roten Kapelle werden Harro und Libertas Schulze-Boysen am 31. August 1942 von der Gestapo verhaftet. Nachdem beide vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt worden sind, erfolgt am 22. Dezember die Hinrichtung. Genau wie bei den später ermordeten Männern des 20. Juli erfolgt der Tod durch den Strang. Diese Form der Hinrichtung gilt als besonders demütigend für einen Angehörigen des Militärs.

Arvid Harnack (24. Mai 1901–22. Dezember 1942)

Abb. 2: Arvid Harnack
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Arvid Harnack stammt aus Darmstadt. Hier wird er am 24. Mai 1901 als Sohn des Hochschullehrers und Goetheforschers Otto Harnack geboren. Ein Onkel von ihm ist der bekannte Theologe und Kirchenhistoriker Adolf von Harnack. Nach seiner akademischen Ausbildung, die er zunächst 1924 mit der Promotion in Jena abschließt, reist Harnack als Stipendiat der Rockefeller-Stiftung nach Madison (Wisconsin/USA), um dort Nationalökonomie zu studieren. Hier lernt er seine spätere Frau, die Literaturdozentin Mildred Fish, kennen. Im Jahre 1929 kehrt er gemeinsam mit Mildred nach Deutschland zurück. In Gießen gründet er mit anderen die „Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetischen Planwirtschaft“ (ARPLAN). In der Folgezeit führt er eine Studienreise in die Sowjetunion durch. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 muss die Arbeitsgemeinschaft auf staatlichen Druck hin aufgelöst werden.

Nach dem Abschluss des zweiten juristischen Staatsexamens ist Arvid Harnack im Reichswirtschaftsministerium und zudem als Dozent für Außenpolitik in Berlin tätig. In dieser Zeit kommt es zur Bildung einer oppositionellen Diskussionsgruppe, in der sich Harnack, seine Frau Mildred und andere über den Sturz der NS-Diktatur austauschen. Um den Schein eines angepassten Staatsdieners zu wahren, tritt er 1937 der NSDAP bei. Nach dem Ausbruch des 2. Weltkrieges vernetzt sich die Gruppe um Harnack mit dem Schulze-Boysen-Kreis und nimmt Kontakt zur Sowjetunion auf. Kurz vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion übermitteln Harnack und Schulze-Boysen Details zu den Angriffsplänen des „Unternehmens Barbarossa“ nach Moskau. Nachdem die Rote Kapelle enttarnt worden ist, erleidet Harnack dasselbe Schicksal wie Harro Schulze- Boysen: In einem nur viertägigen Scheinprozess wird er zum Tode verurteilt und am 22. Dezember hingerichtet.

Heinz Strelow (15. Juli 1915–13. Mai 1943)

Heinz Strelow stammt aus Hamburg. Nachdem er seinen Vater schon früh verloren hat, arbeitet er ab Januar 1933 zunächst im Handarbeitsgeschäft seiner Mutter mit. Zu dieser Zeit ist Strelow bereits Mitglied der Kommunistischen Partei und leistet früh Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Im Frühjahr 1939 wird Heinz Strelow zunächst zum Reichsarbeitsdienst (RAD) eingezogen; ab 1940 leistet er seinen Militärdienst ab. Ab April 1941 wird er zur „Heeresabnahmestelle für das Beschusswesen“ nach Berlin-Wannsee versetzt. Er wohnt zu dieser Zeit bei der Familie Bontjes van Beek und lernt Cato kennen, mit der er später eine eigene Wohnung bezieht. Beide sind im Kreis um Harro Schulze-Boysen u. a. an der Herstellung der Flugschrift „Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk“ beteiligt. Am 18. Januar 1943 wird Heinz Strelow vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und nur vier Tage später hingerichtet.

I. Aufgaben

  1. Der renommierte deutsche Historiker Wolfgang Benz ordnet die Rote Kapelle in seinem 2014 erschienenen Werk „Der deutsche Widerstand gegen Hitler“ dem „Widerstand traditioneller Eliten“ zu und spricht hier von einem Widerstand von Intellektuellen. Setzen Sie sich mit dieser Einordnung auseinander und entwickeln Sie ggf. eine treffendere Charakterisierung.
  2. „Im äußeren Sinne blieb [der] Widerstand erfolglos, die NS-Herrschaft brach erst mit der militärischen Niederlage zusammen. Für den Neubeginn nach dem Zusammenbruch, für eine auf Humanität, Recht und Demokratie gegründete Staats- und Gesellschaftsordnung nach Hitler gehörte der Widerstand als Beispiel politischer Moral, unter welcher ideologischen Prämisse oder sozialen Voraussetzung er auch geleistet wurde, zu den wichtigen sinnstiftenden Ereignissen der deutschen Geschichte.“
    (aus: Wolfgang Benz: Der deutsche Widerstand gegen Hitler. München 2014, S. 120.)

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