Der Widerstand gegen das NS-Regime war breit gefächert. Er reichte von passiver Resistenz und non-konformem Verhalten bis zu Emigration und dem „generalstabsmäßig“ geplanten Attentats- und Umsturzversuch vom 20. Juli 1944. Getragen wurde der Widerstand von Männern und Frauen aus allen sozialen Schichten und politischen Lagern. Oppositionskreise in der Wehrmacht zählten ebenso dazu wie die Mitglieder der „Weißen Rose“, des „Kreisauer Kreises“ oder der „Roten Kapelle“. Daneben gab es die vielen „unbesungenen Helden“, die Verfolgten Unterschlupf gewährten oder sie mit Lebensmitteln versorgten. Während Thomas Mann sich aus der Emigration über den Londoner Rundfunk an die deutsche Bevölkerung wandte, schlossen sich andere Emigranten wie der deutsche Kommunist und Jude Harald Hauser der französischen Résistance an, um mit der Waffe gegen das „Dritte Reich“ zu kämpfen.
Abb. 1: Clemens August Graf von Galen, Bistumsarchivs Münster, Lizenz: CC-BY 2.5
Abb. 2: Martin Niemöller, Lizenz: Public Domain
Widerstand gab es auch in den Kirchen. So verurteilte der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen (Abb. 1), in mehreren Predigten die nationalsozialistische Terrorherrschaft und geißelte die als „Euthanasie“ bekannt gewordenen Massentötungen als vorsätzlichen Mord. Mindestens 70.000 „unheilbar Kranke“ wurden im Zuge des „Euthanasie-Programms“ ermordet. Als diese Mordaktion Heil- und Pflegeanstalten in Westfalen erreichte, wandte Galen sich in einer stark beachteten Predigt am 3. August 1941 gegen die als „Gewährung des Gnadentods“ verbrämte Massentötung und erstattete Anzeige nach Paragraph 211 des Strafgesetzbuches. Britische Flugzeuge warfen Flugblätter mit Auszügen der „Euthanasie-Predigt“ ab, und auch Mitschriften anderer Predigten Galens gingen von Hand zu Hand. Während die NS-Machthaber vor einer Festnahme des populären Bischofs zurückschreckten, wurde der Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg , der als einer von wenigen auch gegen die Deportation von Juden aufgetreten war, verhaftet. Er verstarb am 5. November 1943 auf dem Weg in das Konzentrationslager (KZ) Dachau. In der evangelischen Kirche war der Dahlemer Pfarrer Martin Niemöller (Abb. 2) einer der konsequentesten NS-Gegner. Er gründete im September 1933 den Pfarrernotbund, der Anfang 1934 rund 7.000 Mitglieder zählte und gegen die Einführung des „Arierparagraphen“ in Kirchenämter und die Entlassung von Geistlichen „jüdischer Herkunft“ protestierte. Aus dem Notbund ging wenig später die „Bekennende Kirche“ hervor. Sie berief sich in der Auseinandersetzung mit dem NS-Staat und mit den „Deutschen Christen“, die sich als „SA Jesu Christi“ verstanden, auf ein „Kirchliches Notrecht“, das den religiösen Widerstand legitimierte. Eine christliche Gesinnung führte auch den evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer in den Widerstand. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs unterhielt er enge Kontakte zur militärischen Opposition um Admiral Wilhelm Canaris und Hans Oster und wurde am 9. April 1945 gemeinsam mit diesen im KZ Flossenbürg hingerichtet. Als einzige Glaubensgemeinschaft verweigerten sich die Zeugen Jehovas dem NS-Regime in aller Konsequenz. Trotz Verbot, Verfolgung und Konzentrationslagerhaft hielten die meisten Mitglieder an ihrer Glaubensgemeinschaft fest.
Der nationalkonservative Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler (Abb. 3), ein auch von Hitler hoch angesehener Finanzfachmann, trat 1937 aus Protest gegen den in Deutschland herrschenden Antisemitismus sowie die nationalsozialistische Wirtschafts- und Finanzpolitik von seinem Posten zurück. Nach Kriegsbeginn wurde Goerdeler zum Mittelpunkt eines konservativ, nationalliberal ausgerichteten Widerstandskreises, dem auch der frühere deutsche Botschafter in Italien, Ulrich von Hassell, sowie General Ludwig Beck, über den Goerdeler Zugang zu militärischen Widerstandskreisen erhielt, und Johannes Popitz angehörten. An den Planungen zu einem Umsturzversuch und der Neuordnung Deutschlands nach Überwindung der NS-Herrschaft nahmen aber auch Gewerkschafter wie Wilhelm Leuschner und Jakob Kaiser (1888-1961) teil. Hinsichtlich der Staatsform, wie sie 1941 in der Denkschrift „Das Ziel“ dargelegt wurde, neigte der Goerdeler-Kreis zur Wiedereinführung der Monarchie und zu einem Zweikammer- System.
Ein Zentrum des bürgerlich zivilen Widerstands war der „Kreisauer Kreis“, benannt nach dem niederschlesischen Gut Kreisau von Helmuth James Graf von Moltke (Abb. 4), wo ab 1940 auf regelmäßigen Treffen Konzepte für eine grundlegende staatliche, wirtschaftliche und soziale Neuordnung Deutschlands nach dem Sturz der NS-Diktatur erörtert wurden. Im Unterschied zu anderen Widerstandsgruppen lehnte der „Kreisauer Kreis“ Nationalismus weitgehend ab und orientierte sich an einer europäischen Föderation. Vor allem über Adam von Trott zu Solz suchte der Kreis Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen im In- und Ausland sowie zu den Alliierten. Ab 1943 wuchs auch bei den Mitgliedern des „Kreisauer Kreises“ die Überzeugung von der Notwendigkeit eines Staatsstreichs. Nach der Verhaftung Moltkes im Januar 1944 schlossen sich einige Mitglieder der Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Goerdeler an und wirkten an den Vorbereitungen zum Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 mit.
Abb. 3: Carl Friedrich Goerdeler, Bundesarchiv, Bild 146-1993-069-06, Lizenz: CC-BY-SA 3.0
Abb. 4: Helmuth James Graf von Moltke, Anhörung vor dem Volksgerichtshof, Bundesarchiv, Bild 151-08-38, Lizenz: CC-BY-SA 3.0
Angesichts der Kriegswende in der Sowjetunion, wo nach der für die Wehrmacht verlorenen Schlacht um Stalingrad im Februar 1943 zunehmend die Rote Armee die Oberhand gewann, hatte auch in Militärkreisen der Widerstand gegen Hitler und gegen den von ihm befohlenen Vernichtungskrieg im Osten zugenommen. Ab 1943 entwarfen Wehrmachtsoffiziere um Stauffenberg, Friedrich Olbricht und Henning von Tresckow in Verbindung mit dem zivilen Widerstand um Beck, Goerdeler und Mitglieder des „Kreisauer Kreises“ Pläne für eine Regierung nach dem Sturz des NS-Regimes. Ihnen gelang es, Dutzende von Unterstützern innerhalb und außerhalb der Wehrmacht für den geplanten Staatsstreich zu gewinnen. An dem Umsturzversuch beteiligten sich die Männer aus ganz unterschiedlichen Motiven. Einige hatten den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes schon früh erkannt und waren gegen dieses seit den 30er Jahren aktiv. Viele Militärs waren über die im Namen Deutschlands begangenen Verbrechen in Europa informiert und hatten eingesehen, daß sie als Offiziere den von Deutschland entfachten Krieg selbst zu lange mitgetragen hatten. Andere Männer hingegen wollten angesichts der militärischen Situation und der sich nun abzeichnenden Niederlage nicht viel mehr, als ihre eigene Haut retten. Die Verschwörer planten die Beseitigung des NS-Regimes und Friedensschlüsse mit den Kriegsgegnern, um weitere Opfer zu vermeiden und um den Beweis anzutreten, dass Deutschland aus eigener Kraft mit der Diktatur gebrochen habe. Über die Zukunft Deutschlands aber herrschte Ungewissheit und Uneinigkeit, die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik strebten die Wenigsten an.
Nach dem misslungenen Umsturzversuch am 20. Juli 1944 nahm die Gestapo in den folgenden Wochen Tausende von Regimegegnern fest, rund 5.000 von ihnen wurden bis Kriegsende hingerichtet – viele aus Rache des NS-Regimes noch in den letzten Kriegstagen – oder starben an den Haftbedingungen.
Mit den alliierten Truppen kamen 1945 auch Deutsche zurück in ihre Heimat, die schon in den 1930er Jahren ins Ausland geflohen und dort der Armee beigetreten waren. So nahm der Schriftsteller Stefan Heym als Soldat der US-Armee im Juni 1944 an der alliierten Invasion in Frankreich und an dem Vormarsch ins Deutsche Reich teil. Andere schlossen sich erst während des Krieges als Gefangene oder Überläufer den gegnerischen Streitkräften oder beispielsweise dem Nationalkomitee „Freies Deutschland“ (NKFD, Abb. 5) an. Ihm gehörten kommunistische Funktionäre und Intellektuelle im sowjetischen Exil sowie ehemalige Wehrmachtssoldaten an. Unter Führung der deutschen Exilkommunisten Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht forderte das NKFD über den Radiosender „Freies Deutschland“ die Bevölkerung im Deutschen Reich zum Staatsstreich gegen Hitler auf. An den Frontlinien konzentrierte sich die Tätigkeit des NKFD ebenfalls auf propagandistische Maßnahmen: Mit Lautsprecherdurchsagen und Flugblättern rief es die Wehrmachtssoldaten zur Einstellung der Kämpfe und zum Überlaufen auf. Gefangene oder übergelaufene Soldaten mit Interesse an der Mitarbeit im NKFD nahmen in Lagern an kommunistischen Umschulungen teil, für Hitler und treue Angehörige der Wehrmacht galten sie als Verräter.
Abb. 5: Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Bundesarchiv, Bild 151-08-38, Lizenz: Public Domain
Abb. 6: Sitzung des NFKD, sitzend rechts: Erich Weinert, Präsident des Komitees, links daneben: General der Artillerie von Seydlitz Bundesarchiv, Bild 183-P0926-309, Lizenz: CC-BY-SA 3.0
Quelle: (https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/ widerstand.html; zuletzt eingesehen 20.02.16)
Widerstandsgruppe | ||||
„Widerstand ist eine Provokation, welche die Toleranzschwelle des nationalsozialistischen Regimes unter den jeweilig gegebenen Umständen bewusst überschreitet mit einer Handlungsperspektive, die auf Schädigung und Liquidation [Vernichtung] des Herrschaftssystems abzielt.“ (1994)
Kein System kann alle Normenverletzungen ahnden, jeder derartige Versuch würde das System selbst blockieren. Es gibt also in jedem, auch dem nationalsozialistischen System ganze Bereiche, die gewöhnlich unterhalb der polizeilichen Eingreifschwelle liegen. In diesen Bereichen – also in gewöhnlich sehr privaten Räumen – waren die meisten Akte von Nonkonformität gegenüber dem NS-Regime angesiedelt. In der Regel handelte es sich um einzelne Normenverletzungen, die nicht das Ganze in Frage stellten.
Akte bloßer Nonkonformität wurden dann um einen Grad genereller und damit politisch gegen das Regime gerichtet, wenn sie nicht nur gegen irgendwelche Normen des Systems verstießen, sondern sich den Anordnungen etwa von Behörden bewußt widersetzten. Solche Verweigerung konnte etwa darin bestehen, dass man seinen Sohn oder seine Tochter trotz mehrmaliger offizieller Intervention nicht zur HJ [„Hitler-Jugend“] oder zum BDM [„Bund Deutscher Mädel“] schickte. Oder darin, dass man trotz mehrmaliger Aufforderung durch die Werksleitung die eigene Produktionsleistung nicht erhöhte.
Noch weitgehender, weil in der Tendenz noch mehr auf die generelle Ablehnung des Regimes ausgerichtet, ist der Protest. Er konnte sich immer noch auf eine Einzelmaßnahme beziehen, wie etwa in der Kampagne der Kirchen gegen die Euthanasie.
Als Widerstand würden wir in dieser langen Skala abweichenden Verhaltens dann jene Verhaltensformen bezeichnen, in denen das NS-Regime als Ganzes abgelehnt wurde, und Maßnahmen zur Vorbereitung des Sturzes des NS-Regimes im Rahmen der Handlungsmöglichkeiten des jeweils einzelnen Subjektes getroffen wurden.
(Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Bund Verlag Köln 1982, S. 96 ff.)
Widerstand gegen das Unrechtsregime ist also mehr als nur Verweigerung, als schweigende Ablehnung, mehr als das Einverständnis gegen die Nationalsozialisten im gleichgesinnten Milieu, mehr als die Verurteilung des Diktators und seiner Gehilfen im geschlossenen Kreis. Aus der Ablehnung des Regimes wird Widerstand durch das Bekenntnis und die Bereitschaft, Konsequenzen der Haltung und Handlung zu tragen.
Ein zentrales Element von Widerstand ist die Gefährdung dessen, der sich erkennbar auflehnt. Eine Voraussetzung ist die Bewahrung eigener Identität, das Festhalten an Normen und Werten, die Verweigerung von Anpassung und Kompromiss, wie es des Vorteils, des Friedens, des Fortkommens wegen von der Mehrheit praktiziert wurde. Widerstand ist mehr als das Beharren auf persönlichen Einstellungen, die mit der Räson des Regimes nicht übereinstimmten. Aber ohne eigene Haltung und Orientierung war kein Widerstand möglich.
(Wolfgang Benz, Der deutsche Widerstand gegen Hitler, C.H. Beck München 2014, S. 8)
Der Begriff Widerstand ist stets umstritten gewesen. In der Regel bezeichnet das Wort Widerstand Reaktionen eines Menschen oder von Gruppen auf Machtmißbrauch, Verfassungsbruch und Menschenrechtsverletzungen. Deshalb erscheint Widerstand immer dann als geboten oder gerechtfertigt, wenn Grundsätze des modernen Naturrechts oder Grundprinzipien einer demokratischen, freiheitlichen, rechtsstaatlichen Ordnung gegen Übergriffe verteidigt werden sollen.
Weil sich Widerstand vor allem auf die Verteidigung einer menschenwürdigen Ordnung bezieht, hängt die innere Anerkennung des Widerstands von der Formulierung der Grenzen und Ziele des Staates ab, deren Gefährdung und Verletzung widerständiges Verhalten notwendig macht. In der Regel wird Widerstand durch Attribute präzisiert. Dadurch soll deutlich gemacht werden, daß Widerstand als eine Form abweichenden Verhaltens ein breites Verhaltensspektrum abdeckt – vom passiven Widerstand und der Verweigerung über die innere Emigration, den ideologischen Gegensatz und die bewusste Nonkonformität zum Protest, zur offenen Ablehnung und schließlich zur Konspiration, die sich sowohl auf die gedankliche Vorbereitung der Neuordnung nach dem Ende des NS-Staates konzentrieren konnte als auch versuchen musste, aktiv den Umsturz des Regimes vorzubereiten und durchzuführen. Widerstand bezeichnet ein breites Verhaltensspektrum, dessen Voraussetzungen in Vorbehalten gegenüber dem Regime (Resistenz), in der inneren Kraft zur bewussten Distanzierung von den politischen Konventionen der Zeit und in der Befähigung zur Bewahrung traditional vermittelter Wertvorstellungen liegen. Im Verständnis der Deutschen wird der Begriff Widerstand vor allem durch die Erfahrungen der NS-Zeit bestimmt. Widerstand bezeichnet in diesem Zusammenhang jedes aktive und passive Verhalten, das sich gegen das NS-Regime oder einen erheblichen Teilbereich der NS-Ideologie richtete und mit hohen persönlichen Risiken verbunden war.
(Peter Steinbach / Johannes Tuchel, Widerstandsbegriff, in: Dies. (Hg.), Lexikon des Widerstandes 1933–1945, 2. durchgesehene Auflage, C. H. Beck München 1998, S. 240 f.)
Der Stoff, aus dem Helden sind
Was befähigt Menschen zum widerständigen Denken? Die Forschung liefert darauf ein paar erstaunliche Antworten.
Erinnern Sie sich an die berühmte Szene aus Monty Pythons Filmklassiker Das Leben des Brian? Der unscheinbare Brian, zur selben Zeit wie Jesus geboren, wird durch einige Missverständnisse mit dem Messias verwechselt und unfreiwillig verehrt. Um die ihm zujubelnde Volksmenge wieder loszuwerden, versucht er sie davon zu überzeugen, dass sie gar keinen Messias brauche: »Ihr seid doch alle Individuen!«, ruft er ihnen zu – worauf das Volk im Chor antwortet: »Ja, wir sind alle Individuen!« Nur einer widerspricht mit mickriger Piepsstimme: »Ich nicht.« Offenbar ist er der einzige wirklich selbstständig Denkende.
Auch wenn es unserem modernen Selbstbild kolossal widerspricht: Die menschliche Grundkonstitution scheint nicht darauf ausgelegt zu sein, dass wir alleine stehen. Vielmehr ist die Orientierung an der Gruppe tief in uns verankert. Wir alle kennen das Bedürfnis, uns an unseren Mitmenschen zu orientieren, das gut zu finden, was auch sie gut finden, und im Zweifelsfall das zu denken, was sie denken.
Deshalb sind Helden so selten. Deshalb bewundern wir Menschen, die sich eine eigene Meinung leisten, Menschen, die auch unter schwierigen Umständen ihrem Gewissen folgen und die, wenn es sein muss, auch gegen die Masse Widerstand leisten. Ob unsere persönlichen Heldinnen und Helden nun Jeanne D’Arc oder Robin Hood heißen, Nelson Mandela oder Martin Luther King: Sie alle folgten im Zweifelsfall ihrem eigenen Gewissen. Sie verteidigten ihre Werte und übernahmen dafür die Verantwortung. Und – ach – wie gerne wären wir wie sie!
Doch die Geschichte lehrt, dass solche Lichtgestalten Ausnahmeerscheinungen sind. Für die Mehrheit ist es schwer, eigenständige Entscheidungen zu treffen und dafür einzustehen. Wie können wir diesem Ideal wenigstens ein bisschen näher kommen? Dieser Frage widmeten sich auch der Sozialpsychologe Harald Welzer, der Philosoph Michael Pauen und der Neurowissenschaftler Christoph Herrmann in einem gemeinsamen Forschungsprojekt. Sie versuchten herauszufinden, welche Eigenschaften jemand braucht, um selbstständig denken und autonom handeln zu können. Denn wenn man das wüsste, »hätte man eine Spur«, meint Harald Welzer zu Recht.
Allerdings erwies sich ihr Projekt als unerwartet schwierig. Man könnte sogar sagen, es sei gescheitert. Doch gerade dieses Scheitern macht den Blick frei für die tiefere Erkenntnis dessen, was Widerständler von Mitläufern unterscheidet.
Zunächst teilten die Wissenschaftler ihre Testpersonen in zwei Gruppen: Die eine umfasste Studierende, die sich selbst für hochgradig unabhängig hielten (sogenannte hochautonome), in die andere Kategorie kamen diejenigen, die sich nur wenig Eigenständigkeit zutrauten (niedrigautonome). »Bereits beim ersten Telefonkontakt waren die Unterschiede zwischen den beiden Testgruppen deutlich zu spüren«, erinnert sich Welzer, »die Interviewer wussten nach wenigen Sätzen, ob sich eine Testperson für besonders unabhängig hielt oder eher für beeinflussbar.« Doch dann kam der Praxistest: Wie verhielten sich die Hoch- und Niedrigautonomen in verschiedenen Lebenssituationen tatsächlich? Die Wissenschaftler beobachteten beide Gruppen bei Diskussionen zu moralischen Fragen, prüften, wie sehr sie sich von Zeitungsartikeln in ihrer Meinung beeinflussen ließen, und testeten ihr Verhalten in psychologischen Experimenten.
Überraschendes Ergebnis: »Das tatsächliche Verhalten der Versuchspersonen widersprach kolossal ihrer Selbsteinschätzung! «, fasst Welzer zusammen. Die angeblich Hochautonomen waren keinesfalls eigenständiger als die vermeintlichen Duckmäuser. Und am wenigsten angepasst, so zeigte sich nach Auswertung aller Antworten und Tests, war eine Frau, die sich selbst als niedrigautonom eingeschätzt hatte.
Wie selten echte Verhaltensautonomie ist, belegte auch ein kognitionspsychologisches Experiment im Rahmen des Forschungsprojekts. Dabei sollten die Probanden beurteilen, welche von zwei Bildschirmhälften heller sei als die andere. Zeitgleich wurde ihnen die angebliche Mehrheitsmeinung dazu mitgeteilt (die freilich von den Forschern manipuliert war).
Der Mensch ist anfällig für Mitläufertum
Als Erstes zeigte sich: Die meisten Probanden passten ihre Meinung automatisch dem Urteil der Masse an; hielt etwa die Mehrheit (vorgeblich) eine Bildschirmhälfte für heller, waren auch die meisten Testpersonen dieser Meinung, egal, ob das Urteil stimmte oder nicht. Noch erstaunlicher war das zweite Ergebnis: Die Hirnaktivität der Probanden belegte, dass sie die (falsche) Meinung nicht nur vorgaben, sondern dass sie wirklich sahen, was sie zu sehen erwarteten! Bevor sie urteilen konnten, brachte ihr Gehirn die Eindrücke aus der visuellen Wahrnehmung in Einklang mit dem Mehrheitsvotum – ganz gleich, ob dies nun richtig oder falsch war.
Was als bedrohliche Niederlage unserer Urteilskraft erscheint, ist aus Sicht der Verhaltensforschung durchaus verständlich: Es ist oft hilfreich, aus dem Verhalten der anderen Informationen für das eigene Verhalten abzuleiten. [...] Wenn die Mehrheit unserer Mitmenschen zu einem anderen Urteil als wir selbst kommen, ist deshalb die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir danebenliegen.
[...] So belegten Welzer, Pauen und Herrmann eindrücklich, wie anfällig wir für Mitläufertum und Rudeldenken sind. Trotz aller Bemühungen konnten sie bislang nicht herausarbeiten, welche besonderen Charaktereigenschaften, Erziehungsmethoden oder Lebensumstände das Heldinnen- und Heldentum begünstigen könnten. Gerade die Erkenntnis aber, dass es keine besondere Heldensignatur gibt, ist für Harald Welzer der Schlüssel zum Verständnis dessen, was im Nachhinein oft als Heldentum erscheint. »Nicht der Charakter ist entscheidend, sondern ob jemand in einer bedrängenden Situation Handlungsmöglichkeiten erkennen kann«, sagt der Sozialpsychologe.
Diese These leitet er unter anderem aus der Untersuchung von Widerständler-Schicksalen während der Nazizeit ab. Eine solche Studie stammt von dem Historiker Marten Düring. Er analysierte die Handlungsmotive von Menschen, die sich der damaligen Mehrheitsmeinung widersetzten und Verfolgten des Naziregimes halfen. Dabei zeigte sich: Die Motive der Helferinnen und Helfer waren höchst unterschiedlicher Natur: Manche handelten aus Pflichtgefühl, andere aus Menschlichkeit, wieder andere hatten politische Ideale oder wollten Geld verdienen, und oft war auch eine Mischung aus verschiedenen Motiven am Werk. In vielen Fällen ließen sich die Motive der Helfer gar nicht ergründen, weil die Menschen selbst nicht wussten, was sie zum Handeln bewegt hat. Viele machten den ersten Schritt spontan.
So antwortete etwa eine Sekretärin, die während des Nationalsozialismus Juden versteckt hielt, auf die Frage, warum sie geholfen habe, schlicht: »Mein Chef hatte mich darum gebeten.« Man könne wohl davon ausgehen, dass einige unserer sogenannten Helden erst im Nachhinein zu moralischen Vorbildern gemacht wurden, sagt Welzer. »In Wirklichkeit gibt es viele verschiedene Handlungsmotive.«
Auch ein Mann wie Oskar Schindler sei nicht per se ein »guter« Mensch gewesen, sondern eher ein Spielertyp. Und dieser erkenne oft Handlungsmöglichkeiten, die anderen verborgen blieben. »Schindler hat die Gelegenheit ergriffen, um das Leben der Juden zu spielen, weil sich ihm die Gelegenheit dazu bot«, sagt der Sozialpsychologe. In einer anderen Situation hätte Schindler vermutlich um etwas anderes gespielt. Durch Bestechung und Kollaboration trickste er unter Einsatz seines Lebens den Lagerkommandanten Amon Göth aus und rettete so das Leben von insgesamt 1089 Juden.
Abb. 2: Oskar Schindler hatte Charaktereigenschaften eines Spielers und rettete unter Einsatz seines Lebens 1089 Juden, Lizenz: Public Domain
Die meisten Helferinnen und Helfer allerdings hatten weder die Risikobereitschaft noch das Verhandlungsgeschick eines Oskar Schindler. Sie schmiedeten auch keine heroischen Pläne. Viele von ihnen hatten am Anfang keine Ahnung davon, was auf sie zukommen würde, meint Marten Düring, der für seine Dissertation die Geschichte von Berliner Hilfsnetzwerken für verfolgte Juden untersucht hat. Ergebnis: Die meisten halfen einfach, weil sie darum gebeten wurden, und wuchsen in ihre Rolle hinein. So wie es etwa Maria Gräfin Maltzahn beschrieb, die während des Naziregimes über 60 Verfolgte versteckte oder unterstützte: »Durch Zufall gerät man rein, und dann steckt man drin und macht einfach weiter!«
Am Anfang waren es meist nur kleine Hilfeleistungen, doch mit jeder Handlung erweiterte sich das Repertoire, sodass die Helfer irgendwann genügend Wissen und Erfahrung angesammelt hatten, um komplexe Organisationsprobleme zu bewältigen – Menschen verstecken, Pässe fälschen, Lebensmittelmarken stehlen. Nicht der fromme Wunsch zu helfen brachte also den Stein ins Rollen, sondern der erste Schritt. Daraus ergibt sich oft alles Weitere. Den Verfolgten des Naziregimes zu helfen war dennoch nicht nur organisatorisch, sondern auch moralisch anspruchsvoll. »Ganoventraining bleibt gefährlich«, schrieb ein Helfer, »der kleinste Vorteil für die eigene Person, und wir sind nicht mehr Anti-Nazi-Pioniere, sondern Schieber, ganz gewöhnliche Schieber.« Insbesondere im Umfeld der Kirche war es für viele schwierig, die Grenze zwischen bürgerlichem Anstand und Ganoventum zu überschreiten.
Wer eigenständig handeln wollte, ohne ein »Ganove« zu werden, musste ein feines Unterscheidungsvermögen für »gut« und »böse« entwickeln. Er konnte nicht mehr einfachen Regeln folgen. Was vorher richtig schien, konnte unter den neuen Umständen falsch sein, was vorher falsch war, war jetzt möglicherweise richtig. Das moralische Ideal etwa, »die Wahrheit zu sagen«, gefährdete plötzlich Menschenleben, und immer wieder musste man entscheiden, welcher Wahrheit man treu bleiben wollte, wofür man seinen Kopf hinhielt und wofür man Verantwortung übernahm.
Marten Dürings Studien zeigen, dass diese anspruchsvolle Unterscheidungsfähigkeit meist aus der langjährigen Einbettung in Kreise hervorging, »in denen ein solches Verhalten bestärkt wurde«. Die Helfer berieten und schulten sich gegenseitig. Wie ein Muskel wuchs die moralische Unterscheidungskraft in dem Maße, in dem sie durch gemeinsame Reflexion geübt und genutzt wurde.
Dabei war auch die Unterschiedlichkeit von Helfern und Motiven eine wichtige Voraussetzung für wirkungsvolle Hilfe. Nur weil Kirchenmitglieder mit Kommunisten oder Kleinkriminellen Netzwerke bildeten, konnten sowohl Gelder gesammelt als auch Pässe gefälscht oder Reisen organisiert werden. Denn jede und jeder brachte andere Fähigkeiten mit, die unterschiedliche Handlungen ermöglichten. Während Kirchenmitglieder oft Skrupel hatten, offizielle Gesetze zu übertreten, und deshalb lieber Geld spendeten, waren die Kleinkriminellen darin geübt, am Rande der Gesellschaft zu wirken. Nicht nur ihre Kenntnisse waren von Bedeutung, sondern auch ihre Freiheit von gesellschaftlichen Normen. Nur weil Angepasste mit Unangepassten zusammenarbeiteten und Geschäftemacher mit Idealisten oder Menschenfreunden kooperierten, konnten komplexe Aufgaben bewältigt werden.
Zusammenfassend könnte man also sagen: Was uns zu »Helden« macht, ist nicht so sehr unsere Person oder der Glaube an die »richtige« Sache, sondern eher die Fähigkeit, auch in scheinbar alternativlosen Szenarien Handlungsmöglichkeiten zu erkennen; dazu die Kunst, die richtigen Freunde und Netzwerke zu finden, sowie der Mut, den ersten Schritt zu wagen. Moralische Unterscheidungsfähigkeit wächst, wenn man sie nutzt.
So zeigt gerade die Widerständler-Forschung, wie sehr wir unsere Entscheidungen an anderen orientieren und wie sehr wir durch unsere Beziehungen geformt werden. Es empfiehlt sich also, darauf zu achten, mit wem wir Beziehungen führen und an wem wir uns ausrichten wollen. Wenn wir darüber nicht nachdenken, werden andere für uns entscheiden. Sie werden ihre Interessen durchsetzen, und wir werden es noch nicht einmal bemerken, weil wir sie irrtümlicherweise für die unseren halten.
(Auszug aus: N. Knapp, Die ZEIT 10/2013)