Der Zweite Weltkrieg hinterließ in Deutschland die schlimmsten Verwüstungen seit dem Dreißigjährigen Krieg der Jahre 1618-1648. Auch in der britischen Besatzungszone, die die heutigen Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein umfasste, stellten die Beseitigung der Zerstörungen und der wirtschaftliche Wiederaufbau eine gewaltige Herausforderung dar. Großstädte, Industrie und Infrastruktur hatten insbesondere durch Luftangriffe schwere Schäden erlitten. Infolgedessen stand für die Bevölkerung nicht mehr ausreichend Wohnraum zur Verfügung; zudem war das Heizmaterial knapp. Erheblich verschärft wurde die Situation durch die massenhafte Ankunft von Heimatvertriebenen aus den deutschen Ostgebieten. Flüchtlinge und Vertriebene machten Ende 1947 in der britischen Zone fast 15 Prozent der Bevölkerung aus 1. Insgesamt verzeichneten die westlichen Besatzungszonen zwischen 1945 und 1949 den Zuzug von rund 2,4 Millionen Menschen aus der sowjetischen Zone.
Der Bevölkerungszuwachs wirkte sich auch auf die bereits unmittelbar nach Kriegsende angespannte Ernährungslage aus, die mehrere Ursachen hatte. Zum einen fiel die Agrarproduktion der Ostgebiete weg, die den Westen des Reiches mit Lebensmitteln beliefert hatten, nun jedoch infolge der alliierten Beschlüsse von Deutschland abgetrennt worden waren. Auch hielt die Sowjetunion ihre Zusage nicht ein, Lebensmittel in die Westzonen zu exportieren. Die Bauern vor Ort litten darüber hinaus unter einem Mangel an Düngemitteln und landwirtschaftlichen Maschinen.
Da die Landwirtschaft der britischen Zone die dort lebende Bevölkerung nicht ernähren konnte, musste Großbritannien, das nach Kriegsende selbst unter einer Wirtschaftskrise litt und hoch verschuldet war, Lebensmittel in die Zone ausführen. Bei der Versorgung der Bevölkerung gingen die Briten davon aus, dass ein sogenannter „Normalverbraucher“ pro Tag 2.000 Kalorien benötigte. Im Winter 1945/46 konnten in der britischen Zone jedoch lediglich Rationen von täglich durchschnittlich 1.500 Kalorien ausgegeben werden, die im Frühjahr 1946 auf 1.015 Kalorien absanken2. Auf dem gleichen Durchschnittsniveau bewegten sich die Rationen auch im Winter 1946/47 3. Insgesamt blieb die Lebensmittellage bis zum Frühjahr 1948 prekär.
Blütezeit des Schwarzmarktes. Da Kohlen und Rohstoffe knapp waren, lief die Wirtschaft nur schleppend wieder an; allgemein war die Industrieproduktion rückläufig. Zudem waren zahlreiche Industriebetriebe von der Demontage bedroht, da sie während des Krieges für die Rüstung gearbeitet hatten. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der neu produzierten Güter wurde unterschlagen und auf den Umschlagplätzen des Schwarzen Marktes, vor allem in Großstädten, gehandelt: Hier ließ sich ein Vielfaches der von den Besatzungsbehörden festgelegten Höchstpreise erzielen. Schätzungen zufolge wurden ein bis zwei Drittel der Produktion nicht ordnungsgemäß deklariert, sondern als Schmuggelware in die anderen Besatzungszonen und sogar ins Ausland transferiert. Betriebe entsandten aber auch Mitarbeiter aufs Land, die dort Maschinenteile, Werkzeuge und andere Waren gegen Lebensmittel und Brennmaterial eintauschten. Infolgedessen verlor das Geld (die Reichsmark) an Wert. 1947 wurden für ein Pfund Butter in der britischen Zone Schwarzmarktpreise von 240-250 Reichsmark gezahlt, für ein Pfund Speck 200 Mark, für ein Pfund Zucker 70-90 Mark, für ein Pfund Mehl 30 Mark und für drei Pfund Brot 25 Mark. Ein Paar Strümpfe wurde mit 200 Mark gehandelt, ein Paar Herrenschuhe mit 750 Mark 4.
Zwischen Stadt und Land entspann sich ein reger Handel, der mit der Verschlechterung der Versorgungssituation für die Städter überlebenswichtig wurde. Trotz des Verbotes von Hamsterfahrten blieb vielen Stadtbewohner nur die Möglichkeit, ihre Habseligkeiten auf dem Lande gegen Lebensmittel einzutauschen. Dies wurde von den Ordnungskräften zum Teil stillschweigend toleriert, zum Teil aber auch geahndet. Die Ausbeute derer, die ertappt wurden, wurde konfisziert. Hungerdemonstrationen, Mundraub und Plünderungen von Lebensmitteltransporten wurden von den britischen Besatzern mit zunehmender Besorgnis beobachtet, da sie eine politische Radikalisierung (zugunsten des Sowjetkommunismus) in ihrer Zone fürchteten.
1. Die Nahrungsmittel-Reserve ist sehr gering.
2. Alles anbaufähige Land, und wenn es auch nur ein Schrebergarten ist, muss bestellt werden.
3. Vor allem sind diejenigen Gemüsearten anzubauen, die für den Winter aufbewahrt werden können, wie z. B. Kartoffeln, Steckrüben und Bohnen.
4. Wenn diese Arbeit nicht mit größter Energie angepackt wird, droht eine Hungersnot.5
Die Enttäuschungen, die wir in beiden Jahren seit dem Zusammenbruch erlitten haben, sind schwer. Die Zukunft liegt dunkel und trübe vor uns; wir wissen nicht, was kommen wird. […] Es breitet sich wirklich bei uns, […] in der ganzen britischen Zone, eine etwas nihilistische Stimmung aus, eine Stimmung fast der Hoffnungslosigkeit: Es hat doch alles keinen Zweck; wir können uns nicht helfen, und die Alliierten wollen uns nicht helfen. Was soll denn das noch alles? […] Die Alliierten haben die Staatsgewalt übernommen. Sie müssen diese Staatsgewalt ausüben, so wie das Völkerrecht und insbesondere die Haager Konvention es vorschreiben. Nach diesen Bestimmungen haben sie die Verpflichtung, auch für den Lebensunterhalt des von ihnen besetzten Gebietes zu sorgen, soweit die Bevölkerung selbst dazu nicht in der Lage ist. Ist das geschehen? Ich kann nur sagen, es ist nicht geschehen! […] Wie soll es nun werden, damit wir endlich einmal von dieser Hungerei abkommen? In erster Linie wollen wir versuchen, uns selbst zu helfen. Wenn wir alles getan haben, was wir selbst tun können, dann wollen wir den Alliierten sagen: Mehr können wir nicht tun, jetzt seid ihr an der Reihe, und zwar auf Grund der völkerrechtlichen Bestimmungen, nicht als Almosen, sondern ihr erfüllt eure Pflicht, wenn ihr jetzt für ausreichende Ernährung des deutschen Volkes Sorge tragt.6
Analysieren Sie den Auszug aus der Rede Konrad Adenauers. Welche Erwartungen der Bevölkerung gegenüber den Besatzungsmächten schildert er, und worauf beruft er sich dabei? Welcher Vorwurf klingt in seiner Rede durch? Welches Vorgehen fordert er, um den Hunger zu überwinden?