Dietrich Bonhoeffer (1906–1945): „Tu den Mund auf für die Stummen“

Dietrich Bonhoeffer wird am 4. Februar 1906 gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester Sabine als eines von acht Geschwistern in Breslau geboren. Seine Eltern sind Paula Bonhoeffer (geb. von Hase; 1876–1951) und der bekannte Professor für Psychiatrie und Neurologie Karl Bonhoeffer (1868–1948). Nachdem die Familie 1912 nach Berlin umgezogen ist, legt Dietrich Bonhoeffer im Alter von 17 Jahren sein Abitur ab und studiert anschließend Theologie in Tübingen, Rom und Berlin. Nach seiner Promotion im Jahr 1927 geht er als Vikar zunächst nach Barcelona und kehrt anschließend wiederum nach Berlin zurück. 1930 habilitiert sich Bonhoeffer und absolviert einen längeren Studienaufenthalt am bekannten New Yorker Union Theological Seminary. Seit 1931 ist Dietrich Bonhoeffer Privatdozent für Neutestamentliche Theologie und daneben gleichzeitig Studentenpfarrer an der Technischen Hochschule.

Bereits 1933 warnt Bonhoeffer in einem Rundfunkvortrag vor dem Nationalsozialismus und wird in der Folgezeit zu einem entschiedenen Regimegegner, der sich immer mehr für den Widerstand engagiert, dadurch aber gleichzeitig auch in das Visier der Gestapo gerät. Auch Bonhoeffers Geschwister Klaus und Christine engagieren sich seit dieser Zeit im Widerstand. Im Jahre 1935 wenden sich Vertreter der Bekennenden Kirche, welche die Unvereinbarkeit von Christentum und NS-Rassenideologie betont, an Bonhoeffer und tragen ihm die Leitung des Predigerseminars in Zingst und Finkenwalde (bei Stettin) an. Nachdem das Seminar durch einen Erlass Heinrich Himmlers geschlossen worden ist, setzt Dietrich Bonhoeffer seine Arbeit bis 1940 im Untergrund fort. Seit dem Ende der 1930er-Jahre nehmen die staatlichen Repressalien, unter denen Bonhoeffer zu leiden hat, zu: Nachdem er schon 1936 vom NS-Kultusministerium mit einem akademischen Lehrverbot belegt worden ist, folgen 1940 ein Redeverbot sowie 1941 das Publikationsverbot.

Anfang der 1940er-Jahre findet Dietrich Bonhoeffer durch seinen Schwager Hans von Dohnanyi Anschluss an den sog. Kreisauer Kreis und an den politisch-militärischen Widerstand um Admiral Wilhelm Canaris. Dieser holt Bonhoeffer zu sich in das „Amt Ausland/Abwehr“ im Oberkommando der Wehrmacht (OKW). In der Folge stellt Bonhoeffer im Rahmen von dienstlichen Auslandsreisen Kontakte zu Vertretern westlicher Regierungen her, um eine mögliche Unterstützung der deutschen Widerstandsbestrebungen auszuloten. Neben diesen Sondierungen im Ausland unterstützt Bonhoeffer zudem norwegische Widerstandskämpfer und organisiert für jüdische Bürger aus Deutschland eine Fluchthilfe in die Schweiz. Daneben setzt er sich ab 1942 für die verhafteten Frauen und Männer der Roten Kapelle ein.

Am 5. April 1943 wird Dietrich Bonhoeffer zusammen mit seiner Schwester Christine und seinem Schwager Hans verhaftet. Man wirft ihm Vorbereitungen der „Zersetzung der Wehrkraft“ vor. Nachdem er die erste Zeit im Strafgefängnis Tegel verbracht hat, sitzt er ab Oktober 1944 im berüchtigten „Gestapokeller“ in der Berliner Prinz-Albrecht- Straße ein. Im Februar 1945 wird er in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht, von wo aus er am 7. April 1945 nach Flossenbürg überführt wird. Hier wird Dietrich Bonhoeffer am 9. April 1945 ermordet.

Abb. 1: Dietrich Bonhoeffer im August 1939 (Foto: Bundesarchiv Bild 146-1987-074-16, Lizenz: CC BY-SA 3.0 de)

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Skulptur über dem Hauptportal der Westminster Abbey in London [Ausschnitt]

Abb. 2: Neben der allegorischen Darstellung der Tugenden der Gerechtigkeit, Weisheit, Barmherzigkeit und des Friedens wird der Westeingang der Kirche von einer Galerie von zehn Märtyrern des 20. Jahrhunderts gesäumt – Dietrich Bonhoeffer ist einer von ihnen

I. Aufgaben

  1. Skizzieren Sie Dietrich Bonhoeffers Weg in den Widerstand. Gehen Sie dabei auch der Frage nach, welche Handlungsspielräume er hatte.
  2. Vergleichen Sie Bonhoeffers Werdegang mit den Biographien Arvid Harnacks und Harro Schulze- Boysens, indem Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzeigen.
  3. Führen Sie eine Internet-Recherche zu den Skulpturen der zehn Märtyrern des 20.Jahrhunderts durch: Welche Persönlichkeiten sind neben Dietrich Bonhoeffer noch abgebildet? Was verbindet die dargestellten Märtyrer miteinander? Welche Persönlichkeiten hätten Sie für die Galerie an der Westminster Abbey ausgewählt?

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Dietrich Bonhoeffer schreibt in seinem Werk „Ethik“, welches erst 1949, also vier Jahre nach seiner Ermordung, veröffentlicht wurde:

„Der tyrannische Menschenverächter macht sich […] das Gemeine des menschlichen Herzens leicht zunutze, indem er es nährt und ihm andere Namen gibt: Angst nennt er Verantwortung, Gier heißt Strebsamkeit, Unselbständigkeit wird zur Solidarität, Brutalität zum Herrentum. So wird im buhlerischen Umgang mit den Schwächen der Menschen das Gemeine immer neu erzeugt und vermehrt. […] Je gemeiner der Gemeine wird, ein desto willigeres und schmiegsameres Werkzeug ist er in der Hand des Tyrannen. Die kleine Zahl der Aufrechten wird mit Schmutz beworfen. Ihre Tapferkeit heißt Aufruhr, ihre Zucht Pharisäertum, ihre Selbständigkeit Willkür, ihr Herrentum Hochmut. Dem tyrannischen Menschenverächter gilt Popularität als Zeichen höchster Menschenliebe, sein heimliches, tiefes Mißtrauen gegen alle Menschen versteckt er hinter den gestohlenen Worten wahrer Gemeinschaft. […] Er hält die Menschen für dumm, und sie werden dumm; er hält sie für schwach, und sie werden schwach; er hält sie für verbrecherisch, und sie werden verbrecherisch. […] Je mehr er aber in tiefer Menschenverachtung die Gunst der von ihm Verachteten sucht, desto gewisser erweckt er die Vergötterung seiner Person durch die Menge.“

(aus: Dietrich Bonhoeffer: Ethik, hrsg. von Ilste Tödt, Heinz Eduard Tödt, Ernst Feil und Clifford Green (= Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 6). Gütersloh ²1998, S. 72f.)

  1. Überprüfen Sie, inwiefern Dietrich Bonhoeffer im vorliegenden Textauszug ein Porträt Hitlers entwirft.

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In einem Essay, welchen Dietrich Bonhoeffer zu Weihnachten 1942 seinen engsten Freunden widmet, schreibt er zum Thema „Zivilcourage“:

„Was steckt eigentlich hinter der Klage über die mangelnde Civilcourage? Wir haben in diesen Jahren viel Tapferkeit und Aufopferung, aber fast nirgends Civilcourage gefunden, auch bei uns selbst nicht. Es wäre eine viel zu naive Psychologie, diesen Mangel einfach auf persönliche Feigheit zurückzuführen. Die Hintergründe sind ganz andere. Wir Deutschen haben in einer langen Geschichte die Notwendigkeit und die Kraft des Gehorsams lernen müssen. In der Unterordnung aller persönlichen Wünsche und Gedanken unter den […] Auftrag sahen wir Sinn und Größe unseres Lebens. Unsere Blicke waren nach oben gerichtet, nicht in sklavischer Furcht, sondern im freien Vertrauen, das im Auftrag einen Beruf und im Beruf eine Berufung sah. Es ist ein Stück berechtigten Mißtrauens gegen das eigene Herz, aus dem die Bereitwilligkeit entsteht, lieber dem Befehl „von oben“ als dem eigenen Gutdünken zu folgen. Wer wollte dem Deutschen bestreiten, daß er im Gehorsam, im Auftrag, im Beruf immer wieder das Äußerste an Tapferkeit und Lebenseinsatz vollbracht hat? Seine Freiheit aber wahrte der Deutsche darin […], daß er sich vom Eigenwillen zu befreien suchte im Dienst am Ganzen. Beruf und Freiheit galten ihm als zwei Seiten derselben Sache. Aber er hatte damit die Welt verkannt; er hatte nicht damit gerechnet, daß seine Bereitschaft zur Unterordnung, zum Lebenseinsatz für den Auftrag mißbraucht werden könnte zum Bösen. Geschah dies, wurde die Ausübung des Berufes selbst fragwürdig, dann mußten alle sittlichen Grundbegriffe des Deutschen ins Wanken geraten. Es mußte sich herausstellen, daß eine entscheidende Grunderkenntnis dem Deutschen noch fehlte: die von der Notwendigkeit der freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag. An ihre Stelle trat einerseits verantwortungslose Skrupellosigkeit, andererseits selbstquälerische Skrupelhaftigkeit, die nur zur Tat führte. Civilcourage aber kann nur aus der freien Verantwortlichkeit des freien Mannes erwachsen. Die Deutschen fangen heute erst an zu entdecken, was freie Verantwortung heißt. Sie beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht.“

(aus: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, herausgegeben von Eberhard Bethge. Gütersloh 2005, S. 12f.)

  1. Recherchieren Sie in einem Wörterbuch den Begriff „Zivilcourage“.
  2. Fassen Sie anschließend den vorliegenden Textauszug mit eigenen Worten zusammen.
  3. Diskutieren Sie den folgenden Satz vor dem Hintergrund seiner Entstehungszeit (Jahreswechsel 1942/3): „Civilcourage aber kann nur aus der freien Verantwortlichkeit des freien Mannes erwachsen. Die Deutschen fangen heute erst an zu entdecken, was freie Verantwortung heißt.“
  4. Setzen Sie die Auffassung Bonhoeffers in Beziehung zu den von Knapp (siehe Hintergrund-Widerstandsgruppen) dargestellten Forschungsergebnissen zu den Motiven von Helfern gegen ein Unrechtssystem: Überprüfen Sie, inwieweit die Begriffe „Civilcourage“ und „freie Verantwortung“ das Handeln der Helfer prägten.